FASD steht für Fetal Alcohol Spectrum Disorders (Fetale Alkoholspektrumstörungen) und ist die am wenigsten erkannte geistige und körperliche Behinderung. Sie tritt auf, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol trinken. Es gibt dabei keine sichere Menge. Auch das vermeintlich den Kreislauf anregende Gläschen Sekt kann schon schädlich sein.
Der toxische Alkohol gelangt über die Nabelschnur zum Ungeborenen und kann die Organbildung, aber vor allem die Entwicklung des zentralen Nervensystems schädigen. Das äußert sich in angeborenen organischen Fehlbildungen, Dysmorphyen des Gesichts, geistigen Behinderungen, Entwicklungs- und Wachstumsstörungen und kognitiven Defiziten. Außerdem einer Vielzahl von Verhaltensauffälligkeiten, die oft mit anderen Störungen verwechselt werden: beispielsweise dissoziales Verhalten, ADHS oder autistischen Züge.
Im Jugendlichen- und Erwachsenenalter kommen oft psychische Störungen hinzu, von denen nicht geklärt ist, inwieweit sie eigenständig entstanden wären, oder komorbid sind, das heißt aufgrund der hirnorganischen Beeinträchtigungen durch FASD entstanden sind.
Häufigkeit von FASD
Jährlich werden rund 10.000 Kinder mit FASD geboren, so eine Schätzung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Eine im Fachmagazin BMC Medicine im März 2019 veröffentlicheten Studie nennt für das Jahr 2014 in Deutschland eine hochgerechnete Ziffer von 2.930 Babys mit FAS und 12.650 Neugeborene mit FASD.
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts ist FASD in Deutschland mit im Durchschnitt einem betroffenen Kind bei 350 Geburten die häufigste Ursache für geistige Behinderung.
Tragisch ist, dass FASD zu 100% vermeidbar wäre. Die meisten Betroffenen sind ein Leben lang auf Hilfe angewiesen, wobei die größten Probleme in der Bewältigung des Alltags liegen.
Alkohol in der Schwangerschaft
Alkohol ist ein Zellgift. Trinkt eine Frau in der Schwangerschaft Alkohol, gelangt dieser über das mütterliche Blut durch Plazenta und Nabelschnur unverdünnt und ungefiltert zum Kind. Dieses hat innerhalb weniger Minuten genauso viele Promille wie seine Mutter.
Während die Mutter einen Tag braucht, um den Alkohol abzubauen, braucht der Embryo drei bis zehn Tage.
Diagnose und Test von FASD
Die FASD-Diagnostik kann meist nur im Kindesalter oder bei bekanntem Alkoholkonsum der leiblichen Mutter während der Schwangerschaft gestellt werden. Wenn nicht bekannt ist, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert hat, sollten zwei der folgenden Kriterien vorliegen:
- Vor- und nachgeburtliche Wachstumsstörung
- Dysfunktion des ZNS (Störung des Zentralnervensystems)
- Charakteristische Gesichtsveränderungen
Die äußerlichen Merkmale von FASD sind nur im Kindesalter gut zu erkennen, weil sich diese bei Erwachsenen vermindern. Sollte ein Kind keine äußeren Anzeichen von FASD haben, heißt dies nicht, dass kein FASD vorliegt. FASD kann auch anhand von Entwicklungsstörungen, Sprach- und Hörstörungen, Intelligenzminderung, Hyperaktivität, Autismus und vielen anderen physischen und psychischen Merkmalen erkannt werden.
Es kommt nicht selten zu Fehldiagnosen aufgrund nicht erkannter FASD. Bei den milderen FASD-Ausprägungen zeigt das Syndrom praktisch die gleichen Symptome wie bei ADHS, also ständige motorische Unruhe, Nervosität, sehr kurzfristiges Interesse an einer Aufgabe oder schneller Wechsel von einem Spielzeug zum nächsten, Ungehemmtheit und Impulsivität im Sozialverhalten.
Sie finden unten eine Liste von FASD-Fachzentren, Kliniken und Ärzten in Deutschland. Die meisten dieser Einrichtung sind auf die Diagnose und Behandlung von Kindern spezialisiert.
Inzwischen gibt es auch Diagnosemöglichkeiten für Erwachsene: die FASD-Sprechstundes des Sonnenhof e.V. in Berlin, die FAS-Ambulanz der Tagesklinik Walstedde und das LVR-Klinikum in Essen.
Auch das FASD-Fachzentrum Hamburg plant mittelfristig für Hamburg, eine Diagnosestelle für Erwachsene mit entsprechenden Betreuungsangeboten einzurichten.
Download: Liste von FASD-Fachzentren und Fachärzten
Wie äußert sich FASD?
Die oft normale Intelligenz steht nicht selten im Widerspruch zu Problemen der Betroffenen bezüglich der alltäglichen Lebensführung, die auch als tertiäre Störungen bezeichnet werden. Als typische Symptome sind hier vor allem Labilität, Antriebsarmut und Desinteresse sowie distanzloses oder enthemmtes Verhalten in sozialen Situationen zu nennen. Probleme liegen in den Bereichen der schulischen Ausbildung, der Arbeits- sowie Wohnsituation, des Selbst- und Fremdwahrnehmung, der exekutiven Funktionen, des Sexualverhaltens und der psychischen Gesundheit.
So treten laut einer Berliner Längsschnittstudie Schulwechsel und Wohnungslosigkeit vermehrt auf und nur 12 % der erwachsenen Versuchsteilnehmer mit FASD waren zum Erhebungszeitpunkt erwerbstätig. Ebenfalls auffällig ist, dass FASD-Betroffene sowohl als Opfer als auch als Täter innerhalb des Strafjustizwesens häufiger in Erscheinung treten und überdurchschnittlich oft Haftstrafen antreten müssen. Von den Betroffenen werden 80 % als nicht selbstständig lebensfähig eingestuft.
Körperliche Auswirkungen
- Entwicklungsverzögerungen
- Faziale Auffälligkeiten
- Organdysfunktionen- oder Fehlbildungen (Nieren, Herz oder Schilddrüse)
- Anomalitäten in peripheren Nerven, beispielsweise Schmerzunempfindlichkeit
- Chronische Mittelohrentzündung
- Seh- und Hörbehinderungen
Neuronale Auswirkungen
- Konzentrationsstörungen
- Beeinträchtigung der Kognition
- Rezeptive Sprachdefizite
- Verhaltensauffälligkeiten
- Bindungsstörungen
- Beeinträchtigung bei der selbstständigen Alltagsbewältigung (exekutive Funktionen)
Störungen der exekutiven Funktionen
Störungen der exekutiven Funktionen können als ein Kernsymptom von FASD betrachtet werden.
Unter exekutiven Funktionen werden Alltagsfähigkeiten verstanden, die kognitive, emotionale und motivationale Komponenten beinhalten und sich als diejenigen höher geschalteten mentalen Operationen zusammenfassen lassen, die als Garant für ein selbstbestimmtes Leben betrachtet werden. Ihre Beeinträchtigung gilt als eines der Kernmerkmale der Fetalen Alkoholspektrumstörungen und wird oftmals als Erklärung dafür herangezogen, dass Betroffene weit hinter den an den IQ geknüpften Erwartungen in ihrer Selbständigkeit zurückbleiben.
Was klappt nicht so gut?
- Aufmerksamkeit
- Lernen und Gedächtnis
- Planen
- Flexibilität
- Selbstkontrolle
- Begreifen komplexer Zusammenhänge
FASD-Erklärvideo
Geistige Flexibilität
Fähigkeit, flexibel zwischen Aufgaben wechseln zu können.
Max …
- kann nur zögerlich zwischen verschiedenen Aktivitäten wechseln.
- kann jeweils nur eine Sache gleichzeitig machen.
- besteht auf bekannte Routine.
- bleibt einer Sichtweise/Lösung behaftet.
- ist schnell frustriert und bekommt Wutanfälle.
Gedächtnisspeicher
Fähigkeit, Informationen oder Wissen für den späteren Gebrauch zu speichern.
Max …
- vergisst bereits Erlerntes (z.B. das Einmaleins).
- hat Schwierigkeiten, sich an tägliche Ereignisse zu erinnern.
- hat Schwierigkeiten, Informationen wieder abzurufen.
Organisation
Fähigkeit, benötigte Materialien oder Unterlagen zu beschaffen und zu behalten.
Max …
- schließt Aufgaben nicht ab, wird nicht fertig.
- verliert wichtige Dokumente, Zettel und persönliche Sachen.
- entwirft unrealistische (Zeit-)Pläne.
Planung & Reihenfolge
Fähigkeit zur Planung von Teilschritten inkl. des Materials und Zeitaufwandes.
Fähigkeit Teilschritte einer Aufgabe in der richtigen Reihenfolge abzuarbeiten.
Max …
- lässt Teilschritte bei komplexeren Aufgaben aus.
- handelt spontan und unreflektiert.
- hat Probleme, eine Geschichte in der richtigen Reihenfolge und logisch schlüssig zu erzählen.
Zeitmanagement & Prioritäten
Fähigkeit Zeit einzuteilen, zu nutzen und Restzeiten einzuschätzen.
Fähigkeit Termine und Treffen einzuhalten.
Fähigkeit Vorrangigkeit für Bedürfnisse und Aufgaben einzuschätzen.
Max …
- verschwendet seine Zeit für scheinbar Unwichtiges.
- hat Schwierigkeiten, sich wichtige Punkte zu notieren.
- verspätet sich zu Verabredungen.
Hemmung (von Verhaltensweisen)
Fähigkeit nicht auf eine Ablenkung zu reagieren bzw. sich von ihr wieder abzuwenden.
Fähigkeit vor einer (Re-)Aktion nachdenken zu können.
Fähigkeit auf sofortige Belohnungen verzichten zu können, um wichtigere, langfristigere Ziele zu erreichen.
Max …
- erscheint leicht ablenkbar und impulsiv.
- wählt lieber kleinere Belohnungen, die er sofort erhält, statt auf größere zu warten.
- bringt sich oder andere in Gefahr, da er nicht in der Lage ist, die Folgen seines Handels abzuschätzen.
Selbstregulation
Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren, um ein Ziel zu erreichen oder das Verhalten zu kontrollieren.
Max …
- zeigt in vielen Situationen unangemessenes Verhalten oder überreagiert.
Aufmerksamkeit
Fähigkeit, die Aufmerksamkeit (und Anstrengungsbereitschaft) über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.
Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt richten zu können.
Max …
- kann sich für maximal zehn Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren.
- wird von Kleinigkeiten abgelenkt.
Fokussierung
Fähigkeit, die wichtigsten Informationen aus der Umwelt zu filtern und unwichtige Reize ausblenden zu können.
Max …
- scheint wichtige Informationen zur Beendigung einer Aufgabe zu vergessen.
- scheint nicht zu bemerken, dass er sein Verhalten an jeweilige Situationen anpassen muss.
Alkoholembryopathie, Fetales Alkoholsyndrom, Fetaler Alkoholeffekt
Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) oder Alkoholembryopathie (AE), bezeichnet die irreversible, toxische Schädigung eines Emryos durch aufgenommenen Alkohol. Syndrom wird ein Krankheitsbild genannt, unter dem sich viel verschiedene Symptome und Ausprägungen einordnen lassen, dessen Zusammenhänge aber zum Teil nicht bekannt sind.
Die Klassifikation nach ICD-10 in der Kategorie angeborene Fehlbildungssyndrome durch bekannte äußere Ursache erfolgte bisher lediglich als Q86.0 – Alkoholembryopathie (AE) – ohne weitere Differenzierung.

Die ICD-11 wurde am Mai 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (Word Health Assembly, WHA) verabschiedet und tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Hierin wird das Fetale Alkoholsyndrom zum ersten Mal so genannt und seine Erscheinungsformen differenziert. Im ICD-11 ist eine Reform dieses Begriffs unter Nennung der heute üblichen Bezeichnung FASD vorgesehen, allerdings fehlt immer noch die Unterteilung in pFAS und ARND.
Das partielle Alkoholsyndrom (pFAS) lässt sich als Komplex embryotoxisch entstandener, alkoholbedingter, zerebraler Leistungsstörungen definieren, die auch ohne das Gesamtbild der typischen körperlichen Merkmale auftreten. Das heißt aber nicht, dass die Auswirkungen für Betroffene weniger gravierend sind.
Mit ARBD (alcohol related birth defects) werden Schädigungen an Organen und andere körperliche Fehlbildungen (Dysmorphien) bezeichnet. Voraussetzung für diese Diagnose ist ein belegter Alkoholkonsum der Mutter.
Ist die Organbildung beim Kind zum Zeitpunkt des Alkoholkonsums bereits abgeschlossen, entstehen keine oder nur geringe körperliche Fehlbildungen. Trotzdem kann das Zentralnervensystem geschädigt werden, mit kognitiven und verhaltensbezogenen Störungen des Kindes.
ARND (alcohol-related neurodevelopmental disorder) bezeichnet die Schädigungen, die hauptsächlich das zentrale Nervensystem (ZNS) betreffen. Eine ältere Bezeichnung dafür lautet Fetaler Alkoholeffekt (FAE). Voraussetzung auch für diese Diagnose ist ein belegter Alkoholkonsum der Mutter.
Hier sind nicht die physischen Fehlbildungen, sondern die Dysfunktionen des Zentralnervensystems symptomatisch. Mindestens eine der folgenden zentralnervösen Störung muss vorliegen:
- ein kleiner Kopf,
- Hirnanomalien,
- eine schlecht ausgeprägte Feinmotorik,
- Hörprobleme oder ein
- auffälliger Gang.
Außerdem können Verhaltensauffälligkeiten, wie schlechte Schulleistungen, defizitäre Sprachfertigkeiten, Probleme im abstrakten Denken und in Mathematik, geringe Impulskontrolle, ein schlechtes Sozialverhalten sowie Konzentrations‑, Gedächtnis- und Beurteilungsproblematiken auftreten.
Eine praktische und klinisch überzeugende Definition dieser Schädigungsbilder fehlt, allenfalls dienen sie als Auffangkategorien. Sinnvoller wird in Zukunft eine Diagnostik ganz unabhängig von körperlicher Symptomatik sein. Auch hier heißt das nicht, das damit die Auswirkungen für Betroffene weniger gravierend sind.
Da die Grenzen zwischen FAS, FAE, pFAS, ARND und ARBD fließend sind, werden heute alle Diagnosen unter dem Sammelbegriff Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD), auf deutsch Fetale Alkoholspektrumstörung, zusammengefasst.
Weiterführende Links
Alkohol und Schwangerschaft - Noch nicht geboren und schon betrunken Andrea Klahre Handelsblatt 12.05.2019 |
Alkohol in der Schwangerschaft - Fast 13 000 Babys pro Jahr kommen geschädigt zur Welt Astrid Viciono Süddeusche Zeitung 19.03.2019 |
Alkohol ist eine Bedrohung, kein Kulturgut. Werner Bartens Süddeusche Zeitung 19.03.2019 |
Dass ich ganz allein daran die Schuld trage Jean Boué Zeit Online 05.09.2018 |
Kaputt getrunken Guido Kleinhubert Der Spiegel 12.09.2015 |
Fetale Alkoholspektrumstörung – und dann? Ein Handbuch für Jugendliche und junge Erwachsene Die Drogenbeauftrage der Bundesregierung Dezember 2015 |
Fetales Alkoholsyndrom: Oft fehldiagnostiziert und falsch betreut Gela Becker; Dorothea Hantelmann Ärzteblatt 2013 |
Weiterführende Literatur zu FASD
FASD und Schule
Eine Handreichung zum Umgang mit Schülern mit Fetaler Alkoholspektrumstörung
Anne Schlachtberger
Schulz-Kirchner-Verlag, 2018
Suchtgefährdete Erwachsene mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen
Diagnostik, Screening-Ansätze und Interventionsmöglichkeiten
Herausgegeben von Gela Becker, Klaus Hennicke, Klaus und Michael Klein
de Gruyter, August 2015

FASD bei Erwachsenen
Eine Orientierungshilfe für Bezugs- und Begleitpersonen von Menschen mit FASD
Gerhild Landeck, Katrin Lepke, Gisela Michalowski, Beate Weßing
Schulz-Kirchner-Verlag, 2019

FASD – Fetale Alkoholspektrumstörungen
Auf was ist im Umgang mit Menschen mit FASD zu achten? Ein Ratgeber.
Annika Thomsen
Schulz-Kirchner-Verlag, 2018