Viele Forderungen, die einzelne Angehörige, Fachleute oder engagierte Interessengruppen im Rahmen einer besseren Versorgung und Integration von Menschen mit FASD stellen, erscheinen oft überzogen. Der Grad der notwendigen Hilfeleistungen passt insgesamt eher zu schwer mehrfach Behinderten. Die Betroffenen entsprechen dem Bild einer solchen Mehrfachbehinderung nicht; nicht auf den ersten und häufig sogar nicht auf den zweiten Blick.
Nicht umsonst wird FASD als „Unsichtbare Behinderung” bezeichnet.
Auch wir sind keine von Betroffenheit berauschte Gruppe Angehöriger und spezialisierter Fachleute, die ihr Thema für den Mittelpunkt der Welt hält. Wir ziehen lediglich Schlussfolgerungen aus unseren Erfahrungen im Zusammenleben mit den Betroffenen. Unsere Forderungen sind auch nicht neu, sie entsprechen in Gänze den längst etablierter Leitlinien zur Inklusion und dem Recht auf Teilhabe.
Bereits im Jahr 2009 ratifizierte Deutschland zusammen mit vielen weiteren Ländern die UN-Konvention zu den „Rechten für Menschen mit Behinderungen“ ( CRPD — Convention on the Rights of Persons with Disabilities). Die Konvention basiert auf den allgemeinen Menschenrechten und denkt diese quasi nur zu Ende. Die Kernthese der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Teilhabe und ein uneingeschränkter Zugang behinderter Menschen zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung, sowie zu Information und Kommunikation. Die Konvention hat also das Ziel, Menschen mit Behinderungen einen auf die jeweilige Behinderung angepassten normalen und selbstbestimmten Alltag zu ermöglichen.
Diese Kernthese impliziert neben der gesundheitlichen Regelversorgung behinderter Menschen eine auf die jeweilige Behinderung angepasste zusätzliche Versorgung, die die Erfüllung der oben genannten Teilhabe und des uneingeschränkten Zugangs überhaupt erst ermöglicht.
Was muss passieren?
Als Voraussetzung einer Teilhabe und uneingeschränktem Zugang von Menschen mit FASD bedeutet dies
- Eine bessere Kenntnis dieser Behinderung, einhergehend mit einer verbesserten, konsequent angewandten Diagnosestellung.
- Die Notwendigkeit einer spezialisierten, systemübergreifenden Ausbildung von Fachpersonal für FASD.
- Die Einrichtung von FASD-angemessenen Spezialangeboten, die auf die besonderen Funktionsbeeinträchtigungen dieser Menschen abgestimmt sind, zusätzlich zur gesundheitlichen Regelversorgung.
- Die systemübergreifende Koordination von interdisziplinären Spezialangeboten mit dem Fokus auf die Integration in ein normales Alltagsleben.
Diese Umsetzungen mithilfe von spezialisiertem Fachpersonal könnten zu einer verbesserten Integration in ein normales, selbstbestimmtes Alltagsleben führen. Das beeinflusst nicht nur das allgemeine Wohlbefinden der Menschen mit FASD positiv, sondern entlastet auch das soziale Umfeld und senkt langfristig die gesamtgesellschaftlichen Kosten.
Das mehrstufige Bundesteilhabegesetz soll die Konvention schrittweise umsetzen. Die gesetzlichen Weichen für eine verbesserte, interdisziplinäre und systemübergreifende Versorgung von Menschen mit FASD durch spezialisiertes Fachpersonal sind also gestellt.
Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention
NAP 2.0 vom 29.06.2016 „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft”
Schätzungen zufolge werden in Deutschland jährlich bis zu 10.000 Kinder mit FASD geboren. Damit zählen Fetale Alkohol-Spektrumstörungen zu den häufigsten bereits bei der Geburt vorliegenden Behinderungen in Deutschland. In der Praxis werden diese Fälle allerdings selten diagnostiziert. Während zur Diagnose von FAS bei Kindern und Jugendlichen inzwischen eine S 3 Leitlinie (AWMF) vorliegt, fehlen entsprechende Empfehlungen zur Diagnose für von FAS/FASD betroffene Erwachsene. FASD bedeutet für viele der betroffenen Patienten persistierende körperliche und psychopathologische Störungen. Während sich die Versorgungssituation von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden verbessern konnte, ist für Erwachsene mit FASD die Versorgungs- und Betreuungssituation noch unzureichend. Sie leben oft mit einer Fehldiagnose und deshalb falsch behandelt in Einrichtungen der Behindertenhilfe/ Eingliederungshilfe, in Justizvollzugsanstalten oder in der Wohnungslosenhilfe bzw. sind obdachlos.
Das klingt doch vielversprechend, oder? Was ist denn da genau geplant? Auf den 240 Seiten des Aktionsplanes findet sich dann ganz genau folgendes zu FASD:
Zur Verbesserung der Situation der Kinder und Erwachsenen mit FAS/FASD sollen verschiedene Projekte durchgeführt werden mit dem Ziel einer umfassenden Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und einer zielgerichteten medizinischen Versorgung. So sind beispielsweise Expertengespräche zur Bündelung weiterer Vorhaben zur Verbesserung der Situation von FAS/FASD-Betroffenen vorgesehen.
Maßnahmen im Bereich FASD zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
Und das war alles. Expertengespräche.
Was ist da herausgekommen? Zum Beispiel das hier:
Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII
Eine fachlich-inhaltliche Positionierung
Ergebnisse des 2. Expertengesprächs am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin
Bei FASD ist ein Problem, dass der IQ nicht aussagekräftig ist, weil sich diese diffuse Hirnschädigung in einer ganzen Reihe von Bereichen in Verhaltensauffälligkeiten manifestiert, die der IQ nicht erfasst. Entscheidungsträger für die Leistungen sind die kinder- und jugendpsychiatrischen Dienste und die Gesundheitsämter, je nach Bundesland. Mit Blick auf die Große Lösung bzw. das BTHG besteht nun Hoffnung, dass die Spaltung in die Hilfesysteme aufgehoben wird. FASD ist eine hirnorganische Beeinträchtigung mit Auswirkungen im geistigen, seelischen und körperlichen Bereich und damit derzeit z. T. eine systemsprengende Beeinträchtigung, wenn man diesen Menschen gerecht werden will.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Beispiel FASD sehr gut die unbefriedigende Situation des jetzigen versäulten Hilfesystems zeigt und für eine große Lösung in der Kinder- und Jugendhilfe spricht – dies vor allem im Hinblick einer gemeinsamen Finanzierungsverantwortung, um nicht immer die Zuständigkeiten hin und her zu spielen – mit unterschiedlichen Rechtswegen usw. bei hochkomplexen Einzelfällen, die eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit in der Diagnostik und Leistungserbringung bräuchten und nicht für Zuständigkeitsstreitereien. Wenn Tatbestände dann gemeinsam formuliert werden müssen, ist beides wichtig: von den Hilfen zur Erziehung hergedacht die Ermöglichung einer guten Bindung (zur Herkunftsfamilie oder Pflegefamilie), was originäre Aufgabe des Jugendamtes ist, aber auch die ganze umfassende Diagnostik, d. h. der Bereich der Behindertenhilfe, um diese multiprofessionelle Lage abdecken zu können. Besser kann man Reformbedarf eigentlich nicht aufzeigen.
Und was sagt die Bundesregierung so dazu?
Die Fetale Alkoholspektrumstörung. Die wichtigsten Fragen der sozialrechtlichen Praxis
FASD-Fachtagung 2017: Aktuelle Broschüre zu Fragen des Sozialrechts
Es bleibt bei der verfahrensrechtlich notwendigen Zuordnung der sachlichen Zuständigkeit entweder zur Kinder- und Jugendhilfe oder zur Sozialhilfe. Entscheidend ist dafür der Intelligenzquotient eines Kindes. Bei einem IQ von unter 70 ist der Träger der Sozialhilfe zuständig, bei einem höheren IQ der Träger der öffentlichen Jugendhilfe.
Und wann wird es besser?
Für das Bundesteilhabegesetz sind vier Reformstufen vorgesehen. Die „Neubestimmung des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe” soll ab 1. Januar 2023 in Kraft treten.
Im Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“ findet sich folgende Kritik zur in Deutschland für Rehabilitationsmaßnamen verbindlichen Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF):
Das Problem für die Anerkennung als Behinderung sind zum einen die individuell unterschiedlich ausgeprägten Einschränkungen im Individuum, andererseits dass betroffene Menschen sehr wohl über einen normalen IQ verfügen, auch sonst über keine definierten Behinderungsmerkmale verfügen, aber aufgrund ihrer mentalen Schädigung nicht alleine am Leben teilhaben können.
Nach derzeitiger Definition von ICF würde damit eine der zahlenmäßig größten Gruppen von Menschen mit Behinderungen aus der Definition – und den damit verbundenen notwendigen Hilfestellungen ausgeschlossen.
https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/bthg-kompass/bk-bedarfsermittlung-icf/leistungsberechtigter-personenkreis/fd4-1005/
Zusammenfassung
Laut Statistischem Bundesamt gibt es 7,8 Mio. anerkannte schwerbehinderte Menschen in Deutschland. 3 % der Behinderungen sind angeboren, beziehungsweise traten im ersten Lebensjahr auf.
Pressemitteilung Nr. 228 vom 25. Juni 2018
Wir haben also eine Situation, in der für die größte Gruppe von Menschen mit angeborenen schweren und mehrfachen Behinderungen auch 14 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention:
- keine oder nicht ausreichende Daten erfasst werden,
- keine verbindliche Diagnostik für Erwachsene angeboten wird,
- nur unklare oder unkoordinierte Hilfen zur Verfügung stehen.
Vorschlag: Die von den GRÜNEN vorgeschlagene Erhöhung der Alkoholsteuer nutzen, um Aufklärung und Prävention von Alkoholmissbrauch sowie Maßnahmen zur besseren Diagnostik, Förderung und Inklusion von Menschen mit FASD zu finanzieren.